Gesamtstrafe / europäischer Haftbefehl

| Strafrecht

IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1 Spezialitätsgrundsatz

[Rn. 9] Sinn und Zweck des vorgenannten Grundsatzes der Spezialität, Schutz der Souveränität des um Rechtshilfe (hier: Auslieferung im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) ersuchten Staates (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2016 – 1 StR 627/15, NStZ-RR 2016, 290, 293), bedingen es, die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur nachträglichen Einbeziehung von Vorstrafen auf die vorliegende Konstellation zu übertragen, in der hinsichtlich der Gesamtstrafensituation eine vergleichbare Verfahrenslage in Rede steht. Der Unterschied zur bisher entschiedenen Fallgruppe besteht lediglich darin, dass keine nachträgliche Gesamtstrafe mit einer dem Spezialitätsschutz unterfallenden Vorstrafe zu bilden war, sondern mehrere Taten zur gleichzeitigen Aburteilung anstanden, von denen ein Teil von der Auslieferungsbewilligung bzw. von dem Europäischen Haftbefehl nicht umfasst war. Um dem Spezialitätsschutz hinreichend Rechnung zu tragen, darf eine Gesamtstrafe in dieser Konstellation (erst recht) nicht gebildet werden.

[...]

[Rn. 11] b) Das Landgericht wird somit aus den für die abgeurteilten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rechtsfehlerfrei bestimmten Einzelstrafen [...] unter Beachtung des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO eine neue Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden haben. Dies kann im Beschlusswege nach den §§ 460, 462 StPO erfolgen (§ 354 Abs. 1b StPO). Sollten aufgrund einer nachträglichen Zustimmung der Republik Polen oder nach einem jederzeit möglichen Verzicht des Angeklagten auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes die übrigen Einzelstrafen vollstreckbar werden, wäre – ebenfalls gemäß § 460 StPO – nachträglich eine (neue) Gesamtstrafe zu bilden (Senat, Urteil vom 28. August 2019 – 2 StR 25/19, juris Rn. 11). Im Rahmender nachträglichen gerichtlichen Entscheidung wird auch Gelegenheit bestehen zu prüfen, ob angesichts der Tätigkeit des Angeklagten als internationaler Speditionsfahrer (vgl. UA 54) der Spezialitätsschutz nach § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG oder Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) des Europäischen Auslieferungsübereinkommens möglicherweise entfallen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 – 1 StR 165/12, juris Rn. 8 ff.; vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 143.

BGH, Beschluss vom 19. Juli 2023 – 2 StR 46/22 – LG Gießen

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