StGB § 46 Abs. 2, § 177 Abs. 6
[Rn. 20] Eine Vereinbarung entgeltlicher sexueller Handlungen bleibt auch ohne Einfluss auf das Ausmaß des in einem nachfolgenden sexuellen Übergriff liegenden Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung. Wird die Grundbedingung einer solchen Einigung – freiwilliger Verkehr gegen Bezahlung – nicht eingehalten, so vermag allein der Umstand, dass es zu der Einigung überhaupt gekommen war, die Divergenz zwischen dem Handeln des Täters und dem Willen des Opfers nicht anteilig aufzufangen oder abzumildern. Denn ein Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist jedenfalls nicht in dem Sinne teilbar, dass die Missachtung des Willens eines Sexualpartners sich auf dessen Wunsch nach Gewaltfreiheit und Bezahlung beschränken und hinsichtlich der sexuellen Handlung „an sich“ aber noch ein das Erfolgsunrecht zumindest reduzierender Rest an Konsens verbleiben könnte (vgl. auch MüKo-StGB/Renzikowski aaO unter Verweis auf Hörnle, StV 2001, 454, 455).
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[Rn. 25] Schon die primäre Frage, ob sich ein einvernehmliches Vorgeschehen überhaupt noch auf das subjektive Erleben der Tat ausgewirkt hat oder aber durch den plötzlichen Einsatz von Nötigungsmitteln in den Hintergrund gedrängt worden ist, kann dabei allein anhand des Empfindens des individuell betroffenen Opfers beantwortet werden. Dies kann nicht für bestimmte Fallgruppen – zum Beispiel für Taten gegenüber Prostituierten oder für Taten innerhalb einer bestehenden Intimbeziehung – generell entschieden werden. Der Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB ist auch nicht etwa auf den „Normalfall“ eines Übergriffs ohne vorherigen Kontakt zwischen Täter und Opfer ausgerichtet. Das Strafzumessungsrecht kennt keine normativen Normalfälle; über die Strafhöhe ist vielmehr stets anhand der Verhältnisse des Einzelfalls zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345)
[Rn. 26] Genauso wenig schematisch zu beurteilen ist, in welche Richtung ein – im Einzelfall tatsächlich noch auf das Tatopfer fortwirkendes – Vorgeschehen die Strafzumessung beeinflusst. Die Bewertungsrichtung und das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 14. April 2022 – 5 StR 313/21, NStZ-RR 2022, 201; vom 24. Juni 2021 – 5 StR 545/20 mwN). Haben es dem Opfer etwa Elemente des Vertrauten leichter gemacht, eine erzwungene sexuelle Handlung zu ertragen, so kann dies im Einzelfall strafmildernd wirken; hat das Opfer einen in der Tat liegenden Vertrauensbruch als zusätzliche Belastung erlebt, so kann hierin ein strafschärfender Umstand zu sehen sein.
BGH, Urteil v. 05.01.2023 - 5 StR 386/22 - LG Berlin